Von Thorald Meisel
Bergen - Einen Tag ohne Bücher? Nein, das kann sich Rüdiger Bernhardt nicht vorstellen. Wie viele Bücher er in den vergangenen 80 Jahren in der Hand hielt, das lässt sich freilich nur erahnen. Als junger Bursche wollte er Dramaturg am Theater werden, inzwischen ist er seit Jahrzehnten ein international bekannter Literaturprofessor mit einer Bibliografie, die Zweifel lässt, ob der Tag bei Rüdiger Bernhardt auch nur 24 Stunden hat. Da freilich lacht der Vater zweier Söhne: „Ich brauche eigentlich wenig Schlaf. Als wir früher im Neubau lebten, war ich es gewohnt, nachts zu arbeiten“.
Der mit vogtländischen Wurzeln 1940 in Dresden Geborene studierte in Leipzig Germanistik, Kunstgeschichte, Nordistik und Theaterwissenschaften. Das bedeutete beispielsweise, dass er neben Russisch und Englisch noch mindestens drei Fremdsprachen lesen können musste: Norwegisch, Schwedisch und Alt-Isländisch. Auch im Alt- und Mittelhochdeutschen findet er sich zurecht. Bis heute verehrt er seinen einstigen Lehrer Hans Mayer, obwohl der 1963 in die BRD ging, was dann auch für den Studenten Bernhardt nicht ohne Folge blieb.
Rüdiger Bernhardt mit dem Band „Glückskind mit Vater“ von Christoph Hein. Mit dem preisgekrönten Autor will sich der im vogtländischen Bergen lebende Literaturprofessor noch eingehender beschäftigen. Foto: Thorald Meisel
Mayer hatte unter anderem seinen Schützling vor die Frage gestellt, ob er lieber ein durchschnittlicher Lyriker oder ein namhafter Literaturwissenschaftler werden wolle – letzteres würde aber manchen Ärger mit sich bringen. Rüdiger Bernhardt entschied sich für die Literaturwissenschaft – und Hans Mayer sollte Recht behalten. Aber das wäre ein Thema für seine Biografie. Da könnte man dann auch noch mehr erfahren über die 14 Jahre als Vorstand der Gerhard-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee, die Zusammenarbeit mit Peter Sodan am Neuen Theater Halle oder als Verantwortlicher für die Literatur-Kolloquien an der Ostseeakademie/ Academica Baltica.
Als Literaturwissenschaftler betreute Rüdiger Bernhardt 110 Diplomarbeiten und 22 Dissertationen. Zu seinen Schützlingen gehörte vor mehr als drei Jahrzehnten Lutz Seiler, der 2014 für sein Debüt „Kruso“ den Deutschen Buchpreis erhielt.
„Kruso“ wurde von der Kritik vor allem als Wenderoman gefeiert. „Das Buch ist wesentlich mehr“, sagte Rüdiger Bernhardt 2015 in der Kapelle Neuensalz. Er nannte es eine Bestandsaufnahme bei der Suche nach der Ur-Freiheit – von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Seiler griff für das Buch auf viele Vorlagen zurück. Bernhardt verwies auf Platon und Kant, auf die Tafelrunde von König Artus, aber auch auf die „Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson – es sei auch kein Zufall, dass „Kruso“ auf der Insel Hiddensee spiele. Sein Vortrag war ein Beispiel dafür, wie ein Literaturwissenschaftler ein Buch liest. „Sprache sagt mehr als Reden“, betont er. Wer von den Herrschenden wissen wolle, wie der Zustand ihres Landes sei, brauche nur dessen Literatur gründlich zu analysieren.
2018 erhielt Rüdiger Bernhardt für sein Lebenswerk den von der Sparkasse Vogtland erstmals gestifteten Vogtländischen Literaturpreis. Am heutigen Dienstag wird er 80 Jahre alt. Das Coronavirus verhindert größere Feiern, wie man sie schon im westfälischen Brakel geplant hatte. Der Jubilar nimmt es gelassen. Mit einer über 400 Seiten umfassenden Bestandsaufnahme über die Situation der Literatur im Osten Deutschlands seit 2000 hat er sich selbst ein Geschenk gemacht. Und er weiß, dass er mit seiner Sicht auf die Dinge wieder die eine oder andere Diskussion auslösen wird.
Mit 80, so sagt er, hielten sich große Pläne im Rahmen. Ein Projekt hat er aber schon lange im Blick, ein Buch über den Autor Christoph Hein. Mal sehen, was daraus wird. |